Die Leistung einer Organisation ist von der Umsetzung der (eigenen) Strategie und damit von der Zielumsetzung bzw. –erreichung abhängig. Ziele haben immer Unsicherheiten, die auf sie wirken können. Diese speziellen Unsicherheiten heißen „Risiken“ und damit ist die Zielerreichung auch davon abhängig, wie viele Unsicherheiten (aka Risiken) eine Organisation eingehen kann, will und möchte. Das bewusste Eingehen von Risiken, um die die Ziel noch besser, schneller oder günstiger zu erreichen, nennt sich Risk Appetite. Und somit hängt der Erfolg – egal ob im Unternehmen oder im Projekt – eng mit dem Verständnis des eigenen Risk Appetites (zu deutsch Risikoappetit oder auch Risikolust) zusammen.
So erwarten verschiedenen Stakeholder (z.B. Regulierungsbehörden) von Gremien und Ausschüssen, dass die genau wissen sollten, wie viele Risiken akzeptierbar sind. Und Führungskräfte vieler Organisationen aus Staat und Privatwirtschaft folgen ebenfalls diesem gedanklichen Ansatz.
Soweit, so gut. Aber es herrscht noch immer viel Verwirrung darüber, wie man Risikoappetit festlegt und diese Festlegung anschließend nutzt. Nutzt, um sicherzustellen, dass eine Organisation nicht zu viele (oder zu wenige) Risiken eingeht.
Risikoappetit quantifizieren?
Allerdings ist es schwierig, Risikoappetit zu quantifizieren. Ideal wäre ja eine Metrik oder eine Kennzahl die besagen würde, bis zum Betrag von x sind wir risikoavers, ab dem Betrag y aber sind wir risikosuchend mit großem Risikoappetit unterwegs. Gibt es nicht und wird es nicht geben, da alleine die Bestimmung von Risiken an sich schon sehr subjektiv ist – wie soll es dann erst für ein ganzes Portfolio gelingen, bei dem die Zielerreichung ja auch noch von zum Teil nicht quantifizierbaren Größen („Reputationsverlust“) beeinflusst wird?
Trotzdem kennen wir alle genug Fälle – z.B. auch aus dem Privatleben – wo in einer Situation der eigene Risikoappetit nicht zu einem gegebenen Risiko passt. Würden Sie die Einmalzahlung einer Lebensversicherung komplett in Aktien investieren? Stellen Sie sich sofort in die Schlange zum Bungee-Jumping, wenn sich die Gelegenheit ergibt?
Es fällt uns leicht, darauf zu antworten. Aber woran haben Sie das festgemacht? Eine Möglichkeit wäre, die Entscheidungs-Grundlage nicht für sich zu behalten, sondern offen zu diskutieren um damit eine Verständnis in der Gruppe zu gewinnen. Das gilt vielleicht weniger fürs Bungee-Jumping als vielmehr für die Frage, mit welchem Risikoappetit wir in die Umsetzung des Projektes gehen. Müssen alle gefundenen Risiken vermieden werden? Können wir uns nicht auch bewusst (!) in der Gruppe dazu entscheiden, z.B. schwerwiegende Bedrohungen auch zu akzeptieren? Spart Ressourcen für die Implementierung von Gegenmaßnahmen, kann uns aber auch aus der Kurve tragen. Und vor allem: Wann ist genug? Einmal aus der Kurve tragen mag ja noch verkraftbar sein. Aber 10mal? Mit dem Risiko-Appetit ist es wie beim Mittagessen: Irgendwann reicht es, wir können nicht mehr, wir müssen stoppen, sonst nimmt das alles kein gutes Ende.
Und das Gegenteil stimmt genauso: Aus Angst, aus der Kurve getragen zu werden, zuckeln wir mit 20 km/h durch die Landschaft. Wir brauchen viel länger, brauchen mehr Ressourcen, wahrscheinlich sogar mehr Budget, weil das Team ja über die Zeit bezahlt werden muss und erreichen Ziel zwar sicher aber in der Zwischenzeit ist der Sieges-Champagner schon längst leer getrunken.
Vier Faktoren für das Risikoappetit-Verständnis
- Miteinander reden. Damit ist auch Zuhören gemeint. Es gilt, Respekt für abweichende Ansichten zu entwickeln. Unterschiedliche Wahrnehmungen in Bezug auf Risikoappetit sind unausweichlich. Sie entstehen aus dem Eingehen von Risiken als auch aus der vorhergehenden Erfahrungen mit eingegangenen Risiken. Diese Vielfalt ist wertvoll. Eine offene und ehrliche Unterhaltung ermöglicht es, verschiedene Ansichten auszudrücken und zu diskutieren.
- Infrage stellen. Eine Vielfalt von Ansichten zum Thema Risikoappetit ist normal und auch gewünscht. Aber Achtung! Gruppendenken kann die Risikowahrnehmung beeinflussen. Oder durch eine lange Gruppen-Zusammenarbeitet hat sich unbewusst eine einheitliche Herangehensweise entwickelt. Hier hilft ein neutraler Moderator. Hier hilft Infrage stellen. Dann erst können alternative Szenarien entwickelt werden, die eine offene Diskussion anfachen. Schließlich gilt zu klären, wie viel Risiko in einer gegebenen Situation zu viel wäre.
- Weitergeben. Haben die Entscheider erst einmal ein gemeinsames Verständnis des Risikoappetits entwickelt, geht es mit der Übersetzung in messbare Risikoschwellen weiter. Auf der Ebene der strategischen Ziele aber auch für das operative Geschäft, die Programme und die Projekte. Das ist nicht einfach. Aber auch hier gilt: Eine offene Unterhaltung und das neutrale Infrage stellen sind auch während der Weitergabe wichtig und nötig.
- Überwachung. Jetzt kommt es darauf an, führende (und nicht nur nachlaufende) Indikatoren zu finden. Nennt sich kontinuierliches Risikomanagement. Das Management muss erkennen können, ob das aktuelle Risikopotenzial die definierten Risikoschwellen überschreiten könnte. Das passiert dann, wenn das Risikopotenzial derart anwächst, so dass das mögliche Unsicherheitsergebnis nicht mehr toleriert werden kann. Oder das Risikopotenzial kommt an einen Punkt, an dem die Investition weiterer Ressourcen nicht länger berechtigt ist. Besteht die Gefahr, dass Risikoschwellen überschritten werden, muss das Management in eine andere Risk Attitude (Risikohaltung) wechseln.
Umsetzung oft nicht einfach
Die Umsetzung dieses Ansatzes ist in der Praxis schwerer als in der Theorie beschrieben. Sie erfordert eine Verhaltensänderung von der Unternehmensspitze und eine Akzeptanz auf allen Ebenen.
Risiko ist immer (immer!) subjektiv, aber viele Führungskräfte tun so, als ob es objektiv wäre. Dies führt naturgemäß zu Differenzen. Helfen kann hier einerseits nur starke Überzeugungsfähigkeit sowie andererseits ein Verständnis der Faktoren, die auf Risikowahrnehmung und Risikoverhalten wirken. Gerade die Risikoexperten müssen lernen, mit ihren Kunden verschiedene Einflüsse auf Risikowahrnehmung und Entscheidungsqualität zu erörtern. Und zwar bevor die Entscheidung für einen Weg fällt.
Nur dann werden Organisationen ihren eigenen Risikoappetit richtig verstehen und so zum Ausdruck bringen können, dass ein angemessenes Eingehen von Risiken auf allen Ebenen Erfolg verspricht.
Weiterführende Informationen:
- Hier geht’s zur Webseite des Risikoangebots von Wuttke&Team
- Und hier geht es zu einem Buch aus dem Jahr 2012 über Risikoappetit (Link führt zu Amazon)
Letzte Aktualisierung: 06. Juni 2024 / Copyright Gita GmbH / WTIN: M1004