Für jemanden, der in der Vergangenheit den Risikoprozess nur aus der Bedrohungssicht wahrgenommen hat, mag es neu sein, dass Risiken auch Chancen sind. Deswegen herrscht oft große Unsicherheit, wie man denn die Chancen eigentlich findet.
Hier unser Vorschlag:
Am Ende steht die Sorge, dass eine aktive Suche der Chancen zu einer (schleichenden) Erweiterung des Projektumfangs führt. Der Gedanke geht aber noch weiter: Verfolgt man diese zusätzlichen Extras, kann dies von den ursprünglichen Zielen ablenken und damit sogar kontraproduktiv wirken.
Der joggende Kollege
Einer meiner Kollegen verdeutlichte dies an einem persönlichen Beispiel: Sein Ziel war es, sich paar Pfunde zu entledigen, daher fing er mit dem Joggen an. Er bemerkte nun, dass Laufen auch richtig Spaß macht. Dass er sogar richtiges Talent zum Laufen hat. Sollte er gar einem Verein beitreten oder an einem Marathon teilnehmen?
Sind dies nun die besagten Chancen und sollte er sie aktiv weiterverfolgen? Eigentlich haben sie doch nichts mit dem ursprünglichen Ziel gemein, Gewicht zu verlieren. Sind solche Chancen nicht einfach nur zusätzlicher Projektumfang im Gewichtsreduzierungs-Projekt?
Die Chancen im Projekt
Die gleiche Situation könnte auch in realen Projekten auftreten. Während wir versuchen, ein bestehendes Produkt zu erweitern, stoßen wir auf eine Marktlücke für ein komplett neues Produkt. Ist dies nun eine Chance, die es zu verfolgen gilt oder eine Erweiterung des Projektumfangs?
Die Antwort auf diese sehr wichtige Frage ist: Chancen sind genauso zu behandeln wie Bedrohungen.
Was machen wir, wenn wir während einer Risikobewertung eine Bedrohung finden, deren Auswirkung außerhalb unseres Projekts liegt? Übernehmen wir diese Bedrohung in unser Projekt? Müssen wir diese Bedrohung auch managen, nur weil wir sie identifiziert haben? In Wirklichkeit werden doch derartige Bedrohungen an diejenigen (außerhalb des Projekts, z.B. Auftraggeber oder jemand anders in der Organisation) weitergereicht, die darüber zu befinden haben, welches die nächsten Schritte sein könnten.
Die Chancen jenseits unserer Verantwortung
Das gleiche gilt für Chancen, die jenseits unserer (Projekt-)Verantwortung liegen. Wir können sie nicht einfach so in unser Projekt einbauen. Stattdessen sollten wir sie an jemanden außerhalb unseres Projekts weitergeben. An jemanden, der eine Entscheidung treffen kann, wie mit diesen Chancen umzugehen ist.
Ob ein Risiko zu eskalieren oder innerhalb des Projekts zu bearbeiten ist, hängt in erster Linie an der Frage, ob die Bedrohungen oder Chancen einen Bezug zu den Projektzielen aufweisen. Daher sind die einzigen Risiken, die wir im Laufe eines Projekts betrachten, diejenigen, die unsere Projektziele beeinflussen könnten. Jede Bedrohung oder Chance, deren mögliche Auswirkungen jenseits unseres Projektziele liegen, sollte eskaliert werden. Dies gewährleistet, dass diese Risiken nicht automatisch den Projektumfang erweitern. Natürlich kann jederzeit eine Entscheidung getroffen werden, den Umfang eines Projekts zu ändern, um eine neue Gelegenheit abzudecken oder eine ernstzunehmende Bedrohungen im weiteren Sinne abzuwehren.
Billiger, besser und schneller
Statt sich über Umfangserweiterungen zu sorgen, sollte die Suche nach Chancen alles beinhalten, das uns hilft, die vereinbarten Ziele zu erreichen. Wir suchen nach Wegen, um innerhalb des existierenden Umfangs billiger, besser und schneller zu arbeiten, nicht um den Umfang zu erweitern.
Mein Kollege muss kreative Wege finden, die ihm helfen, Gewicht schneller mit weniger Anstrengung zu verlieren und sollte sich nicht um den Marathon kümmern – es sein denn, er will ein neues Projekt starten – mit einer anderen Zielsetzung.
Zum XMV-Artikel: 10 Mythen rund um Risikomanagement
Zur Risikoseite von Wuttke&Team
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