Produktentwicklung neu definieren

Die Produktentwicklungsprozesse der Automobilhersteller sind in die Tage gekommen. Grundsätzlich kann man sagen, dass alle großen Autobauer in der Grundstruktur einen ähnlichen PEP (Produktentwicklungsprozess) für ihre Serienentwicklung definiert haben. Auf  eine Konzeptphase folgt die Serienentwicklung. Diese schließt mit dem häufig als Lounge-Freigabe bezeichneten Meilenstein ab und geht über in die Serienvorbereitung. Die endet mit dem SOP, dem dann die Markteinführung folgt. Doch es ist an der Zeit umzudenken…

Dringender Veränderungsbedarf

Obwohl die PEPs in den letzten 40 Jahren immer wieder angepasst wurden, können sie nur bedingt mit der digitalen Entwicklung schritthalten. Infotainment und Vernetzung haben heute einen sehr hohen Stellenwert in der Kundenbewertung und vor allem in der Kaufentscheidung. Nicht umsonst vergibt die Zeitschrift Auto Motor Sport den „Car Connectivity“ Preis auf Basis einer Leserumfrage, siehe z.B. Heft 21/2017. Fahrzeuge müssen also möglichst dem Puls der Zeit folgen können. Denn wer akzeptiert heute noch ein teures PKW-Navigationssystem, das keine Echtzeit Stauinformationen integriert oder eine Spracheingabe, die nur mit großer Mühe bedienbar ist. Das Smartphone in der Tasche kann das alles schon! Laut Automobilwoche 17.09.17 bevorzugen 84% der Befragten das Mobiltelefon anstatt des Navis im Auto.

Die IT macht’s nötig

Conti HMI-System, eine Anzeigeoberfläche bei  getrennten Softwareebenen, IAA 2017
Conti HMI-System, eine Anzeigeoberfläche bei  getrennten Softwareebenen, IAA 2017

Für die Entwicklung dieser Systeme geht es vor allem um Geschwindigkeit. Der klassische Entwicklungsprozess orientiert sich jedoch vornehmlich an der Komponentenentwicklung, den Produktionsprozessen der Komponenten und der Elektronik-Hardware. Es finden Vernetzungstests statt. Häufig als sogenannte I-Stufe bezeichnet. Die Softwareentwicklungsprozesse basieren jedoch auf der Annahme hoher Sicherheits-, Qualitäts- und Dokumentationsstandards mit entsprechend langen Entwicklungszyklen. Das hat für sicherheitsrelevante Funktionen (nach ISO 26262), sowie zulassungs- und gewährleistungsrelevante Funktionen auch durchaus seinen Sinn. Denn wer möchte schon aufgrund von Fehlfunktionen des Fahrzeugs einen Unfall erleiden bzw. von Fehlern in versprochenen Funktionen geärgert werden. Für andere Funktionen ist dieser Ablauf jedoch zu starr und kann der Dynamik heutiger Entwicklungen der IT-Giganten nicht mehr folgen.

Was die Veränderungen vorantreibt

Zeit und Kosten sind seit jeher große Treiber von Veränderung des PEPs. So wurden in der Vergangenheit immer wieder – abweichend vom PEP-Standard – sehr individuelle Projektverkürzungen umgesetzt. Man kann sagen: Die Abweichung vom PEP ist schon die Regel.
Die ganz großen Zukunftsthemen der Automobilindustrie: Elektrifizierung, Autonomes Fahren, Digitalisierung & Vernetzung und Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Diese Bereiche sind existenziell im Kampf um die Marktposition, speziell auch im Wettbewerb mit den großen IT-Giganten. Sie haben oberste Priorität und beanspruchen dementsprechend hohe Finanzmittel. Mit den heutigen Geschäftsmodellen verdient jedes Fahrzeug nach wie vor nur einmal Geld. Mit anderen Worten: Die Entwicklungsbudgets müssen und werden anders verteilt. Die neuen und hochpriorisierten Themen ziehen aus der klassischen Entwicklung Mittel ab. Diese Finanzlücken müssen kompensiert werden. Doch das kann nur geschehen mittels einer Veränderung des PEPs an sich und der Art, wie entwickelt wird. Standardisierung, Modularität der Komponenten und der Software sind hier schon seit längerem ein Thema. Das spart nicht nur Produkt-, sondern auch Entwicklungskosten.

Beispiel BMW I Vision Dynamics, die nahe Zukunft der Fortbewegung, IAA 2017
Beispiel BMW I Vision Dynamics, die nahe Zukunft der Fortbewegung, IAA 2017

 

Das neue Zauberwort heißt Virtualisierung

Zauberwort ist die Virtualisierung im Entwicklungsprozess. Schon die Einführung der CAD/CAX-Systeme war ein erster Schritt. Heutige Produktionsprozesse sind ohne virtuelle Unterstützung undenkbar. In der Auslegung von Komponenten und Systemen werden virtuelle Methoden häufig schon konsequent genutzt. Könnte man ein Fahrzeug komplett virtuell entwickeln, ließen sich die Kosten erheblich reduzieren. Speziell Verifizierung und Validierung basieren jedoch nach wie vor auf realen Komponenten. Das verschlingt enorm viel Geld. Ein Konzept-Prototyp kommt da schon mal auf 1.Mio €. Und: Mit einem Prototyp ist es normaler Weise nicht getan. Dazu kommen die entsprechenden Prüfstands- und Erprobungskosten. Durch Virtualisierung hier zu sparen ist eindeutig sinnvoll. Das heutige Verhältnis zwischen Rechenleistung und Kosten hat ein verträgliches Niveau erreicht, so dass auch ein realer Kostenvorteil zu erwarten ist. Allerdings nur, wenn man die Simulationsmodell permanent auf Stand des realen Produkts hält.

Fazit für die Entwicklung

Dennoch ist klar: Die physikalische Wirklichkeit kann nach wie vor nur beschränkt virtuell abgebildet werden. So werde ich es wohl nicht mehr erleben, dass man ohne Prototypen auskommt. Ganz bestimmt nicht bei solch hochkomplexen und sicherheitsrelevanten Systemen wie Fahrzeugen. Auch beim Softwaretest mit simulierter Hardware gelangt man heute noch schnell an Grenzen. Aber Reduzierungen der Anzahl an Prototypen und Tests sowie das Ersetzen von bestimmten Tests ist machbar. Dazu bedarf es allerdings eines gravierenden Kulturwandels: Vertrauen in die Simulationsmethoden, sowie für den Entwickler ein Verlust an emotionalen Erleben.

Vortrag bei der VPC-Tagung 2016
Vortrag bei der VPC-Tagung 2016

Dazu erfahren Sie mehr in meinem Vortrag von der VPC-Tagung 2016 „Weiterentwickelte Validierungsansätze für den Powertrain“ sowie im Vortrag von Thomas Liebezeit „Testen am SiL: Kopplung von HiL-Testautomatisierung und SiL-Umgebung“.

Digitalisierung steigert das Kundenverständnis

Die Nutzung von Daten aus der realen Kundenanwendung eröffnet der Entwicklung ganz neue Möglichkeiten. Es lässt sich sehr genau erkennen, wie der Kunde das Produkt nutzt, welche Fahrsituationen damit verbunden sind, welche Belastungen und auch welche Fehler auftreten können. Die Digitalisierung und auch die Vernetzung sind dazu der Schlüssel. Felderfahrungen lassen sich damit schneller und direkt an die Entwicklung weitergeben und in die Produktverbesserung als nächste Modellpflegestufe einfließen. Außerdem kann man schon während der Entwicklung mit Big-Data-Ansätzen ein Mehrwert aus der Verknüpfung von Entwicklungsdatendaten ziehen.

3D-Druck beschleunigt

Bis der Traum von der rein virtuellen Entwicklung umgesetzt ist, hilft in Teilbereichen der 3D-Druck schneller zu hochwertigeren Prototypen zu kommen. Speziell in der frühen Konzeptphase kann das von Vorteil sein, wenn z.B. spätere Druckgussteile aus dem 3D-Drucker dem Serien-Design möglichst gut ähneln. Die Technik ist hier schon recht weit entwickelt, wie bei der IAA auf dem Daimlerstand zu erleben und von den Fachexperten bestätigt zu bekommen. Für Großserien ist er jedoch noch nicht wirtschaftlich. Weitere Vorteile sind z.B. die völlige Freiheit in der Formgebung (Entfall der Entformung bei Gussteilen) und die Herstellung hybridischen Werkstoffkombinationen, Entfall der Ersatzteillagerung.

Daimler 3-D-Druck-Fähigkeiten, IAA 2017
Daimler 3D-Druck-Fähigkeiten, IAA 2017

Auswirkungen auf das Projektmanagement

Es wird deutlich, dass weniger Prototypen zum Einsatz kommen und Baustufen reduziert werden. Dadurch entsteht ein deutlich verkürzter PEP. Auch die Tests werden durch Kombination mit virtuellen Methoden weniger werden. Das spart Zeit und Geld. Außerdem kann man in der Architektur der Komponenten und der Software noch stärker standardisieren. Speziell bei der Software wird eine funktionale Trennung zwischen kritischen und weniger kritischen Funktionen stattfinden müssen, um bei weniger kritischen Anwendungen schnelle und bequeme Online-Updates zur Verfügung zu haben. Dieser Bereich lässt sich dann eher vom klassischen PEP entkoppeln und leichter mit agilen Methoden bearbeiten. Das kann ein Plus an Geschwindigkeit in erlebbaren Kundenfunktionen bringen.

Was bedeutet das für den Projektmanager?

Als Projektmanager wird man sich mit den neuen Methoden auseinander setzen müssen, um selbst genügend Vertrauen in sie zu entwickeln. Erst dann ist man in der Lage, guten Gewissens den Rahmen für die Entwicklungsmannschaft zu stecken, die erwarteten Kosten- und Zeiteinsparungen zu realisieren. Neben dem klassischen Projektmanagement wird auch das agile Instrumentarium notwendiger Weise zum Einsatz kommen müssen. Es ist eine parallele oder auch hybride Projektform denkbar. In jedem Fall sind agile Methoden in Zukunft ein wichtiges Handwerkszeug. Nebenbei bemerkt ist der agile Werkzeugkasten auch bei Projektkrisen eine gute Wahl, die so oder so jederzeit eintreten können.
Der Projektmanager wird damit zu einem sehr wichtigen Träger und Treiber des notwendigen Kulturwandels und der Neudefinition des PEP.

von Dr. Peter Urban

Letzte Aktualisierung: 11. Februar 2022 / Copyright Gita GmbH / PMI, PMP und PMI-ACP sind eingetragene Warenzeichen des Project Management Institute, PMI (www.pmi.org) / WTIN: M1053

Scroll to Top